Karl Rahner und seine Schüler

Ich war also in einer verzwickten Lage: Einerseits wollte ich der Zeitschrift ein Niveau und eine Ernsthaftigkeit zurückgeben, mit denen sie auch in der akademischen Welt erneut Gehör finden konnte. Andererseits saßen mir Marienerscheinungsfanatiker und andere Sonderlinge im Nacken, die die Zeitschrift als Sammelplatz für stramm antimodemistische Polemik, vermischt mit rechtsradikalen politischen Optionen, missbrauchen wollten, womit sie das ganze Unternehmen der Lächerlichkeit preisgegeben hätten.

In dieser Situation kam das Rahnerjahr 2004, in dem weltweit des hundertsten Geburtstags des bekannten Jesuitentheologen gedacht wurde, wie gerufen. Ich sah darin eine Möglichkeit, mich aus meiner verzwickten Lage zu befreien. Von seinen Schülern, unter ihnen auch der deutsche Kardinal Lehmann, war Rahner in der nachkonziliaren Zeit zum Kirchenvater einer erneuerten, weltoffenen Kirche ausgerufen worden. Auch wenn ich damals nur die Grenzen und Probleme dieses neuen theologischen Konzepts sehen wollte, lagen in seinem mit dem Namen »anthropozentrische Wende der Theologie« umschriebenen Denken tatsächlich die Grundlagen für jenes »aggiornamento« (Verheutigung), mit dem die Konzilspäpste ihre Kirche zu einer gesprächsbereiten, offenen Gemeinschaft der Glaubenden machen wollten. Einer Gemeinschaft, die den Adressaten, also den in der jeweiligen Zeit lebenden Gläubigen, und nicht das anscheinend unveränderliche Dogma in den Mittelpunkt ihrer pastoralen Bemühungen stellt. Einer Gemeinschaft, die überdies in jedem Menschen zunächst ein von Gott in Gnade angenommenes und daher gutes Geschöpf sieht und dann erst seinen Hang zur Sünde und zum Versagen, Dass mit dieser optimistischen Wende hin zu den Bedürfnissen der Menschen von heute die Fundamente des traditionell katholischen Milieus eingerissen wurden, war kaum zu übersehen. Denn wie sehr dieses Milieu sein ganzes Handeln auf einer pessimistischen Sicht des Menschen aufbaut, ist bereits deutlich geworden.

Auch an den Kulissen einer ganz den Duft der Heiligkeit atmenden Kirche rüttelte der Jesuit damals heftig. Der bereits erwähnte Theologe und Psychotherapeut Wunibald Müller erinnert sich an ein persönliches Zusammentreffen mit Rahner: »Als 21-Jähriger traf ich den Theologen Karl Rahner. Wir sprachen damals auch über die Kirche. Er erwähnte die >ecclesia semper reformanda<, die Kirche, die sich ständig in einem Erneuerungsprozess befindet und befinden muss. Er sprach von der Kirche, die immer auch schäbig und sündig ist. Ich habe das nie vergessen.« [41]

Daher war die harte Rahnerkritik, die ich in meiner Dissertation - ausgehend von den Bedenken Joseph Ratzingers vorgelegt hatte, gerade in konservativen Kreisen besonders gut angekommen. Man begrüßte mein Bemühen, in Rahners Theologie eine gefährliche Nivellierung des spezifisch Christlichen auszumachen. Diese Nivellierung wirke sich auf die gesamte Theologie und die Kirchenpolitik aus, die sich nach der Rahner’schen Wende nur noch für den Menschen und nicht mehr ausreichend für Gott, das Übernatürliche und die Heilige Schrift interessierten.

Zugleich fasste man meine Rahnerschelte auch als Kritik an seinem prominentesten Schüler auf, dem Mainzer Kardinal Karl Lehmann, der damals Vorsitzender der Bischofskonferenz war. Lehmann war den Konservativen aufgrund seiner versöhnlichen Haltung nicht nur Rom, sondern auch den fortschrittlich orientierten Gläubigen in Deutschland gegenüber ein Stachel im Fleisch. Der neokonservative Bischof einer deutschsprachigen Diözese fällte mir gegenüber das harsche Urteil, Lehmann sei der Hauptverantwortliche für die moralische und theologische Desorientierung der Kirche in Deutschland.

Nun plante ich, meine Kritik - inmitten all der positiven Würdigungen zum Rahnerjahr - in größerem Umfang, allgemeinverständlicher und mit vielen Fremdbeiträgen im Rahmen der Zeitschrift Theologisches neu aufzulegen. Das Geld dafür wurde von der Fördergemeinschaft bereitwillig zur Verfügung gestellt, und ich konnte sämtliche Rahnerkritiker von Rang und Namen als Mitarbeiter für den Sammelband mit dem Titel Karl Rahner. Kritische Annäherungen gewinnen, der schließlich etwa fünfhundert eng bedruckte Seiten umfasste. Er wurde kostenlos an die deutschsprachigen Bischöfe, an Bischöfe in den USA, an verschiedene vatikanische Behörden sowie die Nuntiatur geschickt.

Der kostenlose Versand solcher Bücher, hinter denen meist potente Geldgeber stecken, ist eine gängige Praxis im katholisch-konservativen Milieu. So möchte man bei den ins Konzept passenden Publikationen hohe Auflagen- und Absatzzahlen erreichen, um damit wiederum entsprechenden Druck auf kirchliche Entscheidungsträger auszuüben.

So sorgte das Buch dann auch für Furore. Viele der kostenlos Bedachten bedankten sich persönlich bei mir als Herausgeber und lobten das Unternehmen ausdrücklich. Auf der anderen Seite zeigten sich viele Rezensenten aber auch besonders gereizt durch meine beiden Beiträge, mit denen ich die Aufsatzsammlung eingeleitet und abgeschlossen hatte.

Lese ich diese beiden Texte heute, so springt mir eine deutliche Akzentverschiebung zwischen meiner Rahnerkritik der frühen Jahre (1998-2000) und diesen Aufsätzen aus dem Jahr 2004 ins Auge. Während ich in meinen ersten Rahnerinterpretationen noch sachlich und ruhig geblieben war, zeigte sich jetzt ein neuer Stil voller Polemik, typisch für die Argumentationsweise extrem konservativer Theologen: Rahner, der progressistischen Katholiken als Kirchenvater der Moderne gilt, wurde von mir kurzerhand zum Ketzer erklärt, dessen Denken nur Verderbnis in die Kirche bringe.

Bezeichnend scheint mir in diesem Zusammenhang die »Argumentation« mit dem Privatleben Rahners. Nach dessen Tod im Jahr 1984 hatte die Schriftstellerin Luise Rinser Briefe publiziert, die sie über Jahre an den Jesuitentheologen geschrieben hatte und aus denen hervorgeht, dass dieser offensichtlich über einen langen Zeitraum in sie verliebt war und dessen Mutter sie »um die nötige Distanz« bat; eine Bitte, die der Jesuitenorden in ähnlicher Weise auch an Pater Rahner herantrug. Obgleich die ganze Sache allem Anschein nach vergleichsweise harmlos war, echauffierte ich mich in meinem einleitenden Buchbeitrag mit dem Titel Karl Rahner - Kirchenlehrer des 20. Jahrhunderts? ganz gehörig über sie. Ich wusste dabei gerade jene Katholiken hinter mir, die meine Akzentverschiebung bei Theologisches kritisierten. Mich auf eine ähnliche These des Dogmatikprofessors Johannes Stöhr stützend, der nicht nur mein Nachbar war, sondern auch bei Theologisches eine Schlüsselrolle spielte, argumentierte ich, durch die Rinser-Geschichte habe Rahner jedes theologische Ansehen verspielt.

Ähnlich hart ging ich in diesen Jahren auch mit Rahnerschülern ins Gericht, für die ich inzwischen zu einem roten Tuch geworden war und die fest entschlossen waren, Rahners Renommee zu verteidigen. Einer von ihnen, der weit über siebzig Jahre alte Münsteraner Theologieprofessor und Priester Herbert Vorgrimler, lieferte mir dazu ein knappes Jahr später eine Steilvorlage: In seiner 2006 erschienenen Autobiographie Theologie ist Biographie verzichtete er auf jegliche klerikale Scheinheiligkeit und erzählte offen von seinem jahrelangen Zusammenleben mit der »sportlichen Sigrid Loersch«. Dabei verschwieg er auch nicht, dass dieses Verhältnis seinen kirchlichen Vorgesetzten bekannt gewesen sei und ihm sein konsequent selbstbewusstes und ehrliches Auftreten geholfen habe, mit den Kirchenoberen in gutem Einvernehmen zu leben. In den klerikalen Kreisen, in denen man solche Dinge sonst ängstlich als Geheimnis hütet, scheint ihm diese fast brutale Offenheit teils sogar echten Respekt eingebracht zu haben.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich mich fühlte, als ich die Autobiographie Vorgrimlers las. Die Ehrlichkeit, mit der er von sich selbst und seinem Zusammenleben mit Sigrid erzählte, wühlte mich auf und machte mich gleichzeitig unglaublich wütend. Entsprechend negativ fiel die Buchbesprechung in Theologisches aus: Es war eine polemische Abrechnung mit der Ehrlichkeit und »sensationslüsternen Offenheit« Vorgrimlers und derer, die mit ihm zu tun hatten. Ich sah darin den Ausdruck einer Theologie, die sich von einem philosophischen und emotionalen Subjektivismus bestimmen lässt, und plädierte energisch für das »Gebot der Diskretion« als Ausdruck der traditionellen Theologie, die sich ganz der Objektivität verpflichtet weiß, in der sich der Theologe als Mensch unsichtbar macht.

Damals hatte ich die Feigenblatttaktik des schönen Scheins offensichtlich so tief verinnerlicht, dass ich bereit sie apologetisch in aller Öffentlichkeit zu verteidigen. Dass Rahnerschüler mir »Ketzerjagd auf niedrigem Niveau« [42] vorwarfen, wundert mich heute nicht. Auch denen, die nicht unbedingt als Sympathisanten Rahners und Vorgrimlers galten, fiel mein Ton unangenehm auf. So sah man sich etwa gezwungen, eine geplante Einladung zu einem Vortrag im Düsseldorfer Konvent der Dominikaner aus Angst vor Unruhe in den eigenen Reihen zurückzuziehen.

Aus dem traditionell katholischen Milieu dagegen, angefangen von Universitätsprofessoren aus aller Welt bis hin zu kirchlichen Würdenträgern, erntete ich für meine polemische Rahnerkritik ebenso wie für die Besprechung der Autobiographie Vorgrimlers höchstes Lob. Auch in den Reihen der Fördergemeinschaft führten diese in das Lager des modernen Katholizismus geschossenen Verdikte dazu, dass man über meine sonst angeblich zu ausgeprägte Wissenschaftsgebundenheit, meine Skepsis bezüglich übernatürlichen Phänomenen sowie meine Ablehnung der Propaganda für eine extrem rechte Politik fortan hinwegsah.

Diese, wie ich damals dachte, allein dem Lagerdenken in der katholischen Kirche geschuldete Verteilung von Lob und Kritik bestärkte mich in meinem bisherigen Vorgehen und führte dazu, dass ich die Kritik an meiner Kritik einfach nach dem Motto »Ein getroffener Hund bellt« abtat.

Eine langsame Veränderung der Einschätzung meines eigenen Handelns setzte erst ein, als mich auch gute Freunde, die sich kaum für die innertheologischen und -kirchlichen Grabenkämpfe interessierten, immer wieder fragten: Wieso diese überbordende Polemik? Wieso verurteilen gerade konservative Theologen bei Vorgrimler und Rahner mit einer solchen Vehemenz etwas, das sie allzu oft in ähnlicher; aus amtskirchlicher Sicht sogar noch verwerflicherer Form doch auch praktizieren? Warum habt ihr solche Probleme mit der Offenheit dieser Theologen?

Da mir in der Zwischenzeit aufgefallen war, dass die meisten schwulen Theologen und Priester, die ich kannte, ebenfalls eine sehr konservative Theologie vertraten, ließen mich diese Fragen nicht mehr los. In Gesprächen mit Freunden wurden mir zwei Dinge zunächst nur schemenhaft, im Laufe der Jahre aber immer deutlicher bewusst.

Zum einen steckt hinter dieser vermeintlich besonders papsttreuen Theologie eine ganz bestimmte Form von schlechtem Gewissen: Weil sie schwul sind und es ihnen nicht gelingt, sich den kirchlichen Vorstellungen eines auf jede Sexualität verzichtenden Lebens zu beugen, wollen diese Priester und Theologen ihre »Untat« auf einer anderen Ebene wiedergutmachen. Verstärkt wurde dieses Gefühl in meinem Fall noch dadurch, dass ich der lange verspürten Berufung zum Priestertum nicht nachgekommen war. Die Vehemenz, mit der sie erzkatholische Positionen verfechten, lenkt viele zudem erfolgreich von der Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben und mit der Haltung der katholischen Moraltheologie zur Homosexualität ab.

Das Päpstlicher-als-der-Papst-Sein erfüllt innerhalb des traditionellen Katholizismus darüber hinaus die Funktion, dass das Umfeld dann eher gewillt ist, über den »Makel« des Schwulseins hinwegzusehen - solange er geheim gehalten wird und solange die Betreffenden als Kämpfer für die »Achse des Guten« zu gebrauchen sind.

Nicht selten bedienen sich homosexuelle Theologen und Priester dieses Mechanismus selbst ganz bewusst. In dem Zusammenhang sei der Fall eines nicht unbekannten Priesters erwähnt, dessen Homosexualität durch einen Sexskandal aufflog. War er zuvor in seinen Positionen eher gemäßigt konservativ gewesen, wechselte er nach dem Skandal, den er öffentlich als eine bösartige Unterstellung liberaler Kräfte ausgab, ins erzkonservative Lager und mutierte zum kämpferischen Verteidiger erzkatholischer Traditionalismen sowie zum Freund der alten Liturgie.

Aus psychologischer Sicht spielt hier wohl zumindest ansatzweise etwas eine Rolle, das C. G. Jung mit dem Begriff »Schattenarchetyp« beschreibt: Verdrängte eigene Eigenschaften und Probleme, besonders solche, die in der eigenen sozialen Gruppe normwidrig sind, werden in einer Art Abwehrmechanismus auf andere Menschen projiziert. Indem man dann diese Menschen hart angreift, glaubt man die entsprechenden Probleme bei sich selbst bewältigt. Die für mich aufreibende Auseinandersetzung mit der Autobiographie Vorgrimlers und dessen Offenheit im Umgang mit seinem Leben erschloss sich mir so im Nachhinein als indirekte Auseinandersetzung mit meinem eigenen Schwulsein und dem bisherigen zwiespältigen Umgang damit.

Die Tatsache, dass innerhalb des konservativen Lagers gerade homosexuell veranlagte Theologen oft besonders vehement für eine traditionelle Moraltheologie und gegen die »Sünde der Homosexualität« argumentieren, ja, sich im persönlichen Gespräch oder in anonymen Internetforen manchmal geradezu homophob äußern, dürfte von Psychologen als Ausdruck subtiler Verdrängungs- und Projektionsstrategien gedeutet werden. Und nicht nur von Psychologen. So schrieb der Berliner Journalist Gregor Tholl in der Welt vom 16. Mai 2010: »Eine andere Erkenntnis bei aufmerksamer Gesellschaftsbeobachtung dürfte sein, dass die schlimmsten Schwulenfeinde oft selber homophil sind, um es mit einem altbackenen Begriff zu umschreiben. Mancher Verklemmte wirft Homosexualität sogar mit Pädophilie in einen Topf - sei es aus Boshaftigkeit oder Dummheit.«

Immerhin führte diese Erkenntnis bei mir in den Folgejahren zunächst dazu, dass ich mich in meiner theologischen Polemik deutlich zügelte. Und die Anfrage des erwähnten Schweizer Professors, meine beiden Aufsätze aus dem Sammelband zu Rahner ins Italienische übersetzen zu dürfen, beantwortete ich insofern ablehnend, als ich darauf bestand, dass dies nur nach gründlicher Überarbeitung und einer deutlichen Abmilderung der Urteile möglich sei.

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